Misophonie auf Reisen: Akustische Zerreißprobe

Es gibt Dinge, die eine Beziehung nicht nur im Urlaub auf die Probe stellen: unterschiedliche Ordnungsvorstellungen, Kartenlesen auf Roadtrips oder der ewige Streit um die perfekte Temperatur im Hotelzimmer. Für Menschen mit Misophonie sind es aber oft viel banalere Dinge, die das Blut in Wallung bringen – vor allem Essgeräusche. Wenn dein Partner genüsslich in ein Croissant beißt oder begeistert eine knusprige Pizza isst, während es dich innerlich zerreißt, dann weißt du, wovon ich rede.

Jetzt stell dir vor, du bist auf Reisen. Neue Länder, exotische Küchen, Restaurants mit ungewohnter Akustik – und dein Partner ist dabei. Immer. Willkommen in meinem Leben.

Was ist eigentlich Misophonie?

Es gibt Geräusche, die mich an den Rand des Wahnsinns treiben. Das Schmatzen beim Essen, das Klappern von Besteck auf Tellern und Schüsseln, das leise, aber eindringliche Schlürfen eines Getränks oder auch Atemgeräusche durch die Nase – all das lässt mich innerlich verkrampfen, als würde jemand mit seinen Fingernägeln über eine Schiefertafel kratzen. Misophonie nennt man dieses Phänomen, eine neurologische Reaktion auf bestimmte Geräusche.

Wenn du nicht selbst betroffen bist, klingt es absurd. Wie kann dich das Geräusch beim Kauen oder Schlucken so stressen? Die meisten Menschen mögen es nicht, wenn ihre Tischnachbarn schmatzen. Doch Misophonie ist mehr als nur ein leichtes Unbehagen – es ist eine extreme emotionale Reaktion auf bestimmte Geräusche. Wissenschaftler vermuten, dass das Gehirn der Betroffenen Reize anders verarbeitet. Statt die Geräusche auszublenden, werden sie verstärkt wahrgenommen und mit negativen Emotionen verknüpft.

Bei mir äußert sich das so: Sobald mein Partner zu essen beginnt, geht mein Puls in die Höhe. Mein Kiefer verkrampft sich, meine Hände verkrampfen sich. Ich weiß, dass es irrational ist, aber das Wissen hilft nicht. Ich will nur noch weglaufen. Aber wenn man zusammen reist, ist das nicht immer eine Option.

Der Flug: die erste Herausforderung

Die erste Etappe jeder Reise ist für mich eine Tortur: der Flug. Egal ob nach Dubai, Thailand oder Gran Canaria – irgendwann kommt der Moment, in dem die Flugbegleiter das Essen servieren. Plastiklöffel klappern auf den Tabletts, Menschen schlürfen ihren Tomatensaft, kauen mit offenem Mund, schieben das Tablett hin und her. Und dann ist da noch mein Partner. Ich liebe ihn, aber wenn er sein Essen genießt, während ich mich in meinem Sitz verkrampfe, frage ich mich, ob Liebe wirklich alle Grenzen überwindet.

Im Laufe der Jahre habe ich Strategien entwickelt, um solche Situationen zu überstehen: Geräuschdämpfende Kopfhörer sind mein bester Freund. Ich suche mir immer einen Fensterplatz, damit ich mich zur Seite drehen kann. Und ich habe ihm verboten, im Flugzeug neben mir Chips zu essen, die er sich sonst gerne am Flughafen für die Reise kauft. Schon das Rascheln der Chipstüte macht mich aggressiv. Auch die Handbewegung, mit der er die Chips aus der Tüte nimmt und zum Mund führt, hasse ich. Aber wenn er dann auch noch auf dem engen Flugzeugsitz neben mir Chips kaut, möchte ich ihm am liebsten eine reinhauen und die Tüte aus der Hand reißen.

Strategien für Menschen mit Misophonie im Urlaub

Wenn du dich in meinen Worten wiedererkennst, bist du nicht allein. Hier sind einige Strategien, die mir helfen, trotz Misophonie zu reisen:

  • Der Kopfhörer ist der beste Freund: Noise-Cancelling-Kopfhörer oder laute Musik über AirPods helfen, Essgeräusche auszublenden.
  • Geräuschkulisse nutzen: In Restaurants am besten draußen – z.B. nahe einer Straße – sitzen, um akustische Reize zu minimieren und die Essensgeräusche zu übertönen. Auch in lauten Restaurants fallen unangenehme Geräusche weniger auf.
  • Offene Kommunikation: Ich habe meinem Partner erklärt, dass meine Reaktion nichts mit ihm persönlich zu tun hat. Er isst nun bewusst leiser (oder setzt sich strategisch günstig).
  • Ablenkung durch eigenes Essen: Wer gleichzeitig isst, achtet weniger auf die Geräusche der anderen.
  • Blickkontakt meiden: Da mich nicht nur Essengeräusche, sondern auch Bewegungen und Gesten triggern (z.B. wie mein Mann das Besteck in den Händen hält), schaue ich beim Essen nicht auf meinen Partner, sondern lasse den Blick durch’s Restaurant oder über die Umgebung schweifen.
  • Im Zweifelsfall flüchten: Manchmal hilft ein kurzer Toilettengang, um sich zu beruhigen. Wenn man wieder zurück am Tisch ist, hat der Partner mit etwas Glück seine Mahlzeit auch schon aufgegessen.
  • Den Partner bitten, bestimmte Nahrungsmittel zu meiden: Besonders geräuschintensive Snacks wie z.B. Chips oder Nüsse können eine große Belastung darstellen. Wenn möglich, sollte der Partner gebeten werden, bei gemeinsamen Mahlzeiten (oder beim gemütlichen Fernsehabend auf der Couch) darauf zu verzichten.

Liebe trotz Misophonie

Reisen mit Misophonie ist eine Herausforderung. Aber wäre ich lieber allein unterwegs? Auf keinen Fall! Trotz aller akustischen Qualen liebe ich es, mit meinem Partner die Welt zu entdecken. Er ist meine wichtigste Stütze – auch wenn er beim Essen Geräusche macht, die mich in den Wahnsinn treiben.

Letztlich geht es darum, einen Weg zu finden, damit umzugehen. Ich kann meine Misophonie nicht abstellen, aber ich kann lernen, damit umzugehen. Und wenn alles andere nicht hilft, bleibt immer noch ein Gläschen Wein, um die Nerven zu beruhigen.

Mehr Infos und Tipps über Misophonie findest du hier:

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